Gemeinschaft erleben, Spaß haben, Gutes tun: Warum sich in England Atheisten zur Sonntagsmesse treffen
DIE ZEIT, 10. Oktober 2013
Der Anfang muss knallen, das hat sich Sanderson Jones vorgenommen, und deswegen klatscht er jetzt, so laut er kann, in seine Hände. Mit einem Fuß stampft er auf den Boden und nimmt den Takt der Band auf, die hinter ihm den Refrain anstimmt: »Celebrate good times, come on!« Der Disco-Hit aus den achtziger Jahren hat auch die Besucher von ihren Stühlen gerissen. Jetzt singen sie fast alle mit und eröffnen gemeinsam mit Jones diesen Gottesdienst für Atheisten.
»Sunday Assembly« heißt die Veranstaltung, wie sie Jones zusammen mit seiner Kollegin Pippa Evans seit Anfang des Jahres in London organisiert. Und offenbar haben die beiden damit einen Nerv getroffen: Schon an den ersten Sonntagen kamen Hunderte Menschen. Übers Internet wanderte die Begeisterung in andere Städte, in denen sich eigene Sunday Assemblies gründeten. »Im Januar hatten wir eine einzige Kirchengemeinde, Ende des Jahres werden es schon 30 sein«, verkündete Jones kürzlich und fügte mit der ihm eigenen Mischung aus Sendungsbewusstsein und Ironie hinzu: »Wir wachsen um 3000 Prozent und damit schneller als jede Kirche der Welt.«
Wenn man beginnt, den Hintergrund dieser Messen zu beleuchten, dann stößt man auf bekehrte Atheisten und zweifelnde Priester, auf euphorische Wanderarbeiter und verärgerte Millionäre. Vor allem aber lernt man, dass der Atheismus in England eine Bewegung mit einer langen Tradition ist – und gerade in jüngster Zeit neue Schubkraft bekommen hat.
Wir besuchen einen Mann, dessen Beruf auf Atheismus beruht: Sid Rodrigues. Als Kind hieß er Simon, doch der christliche Vorname lag ihm nicht, sodass er ihn ändern ließ. Sein Arbeitgeber ist die Conway Hall Ethical Society. Die Organisation wurde vor 220 Jahren gegründet und ist die älteste unter mehreren traditionsreichen Vereinigungen, die sich für freiheitliches Denken und gegen Dogmatik einsetzen. Ihr Sitz ist – wie ihr Name sagt – die Conway Hall im Londoner Stadtteil Holborn, und die Conway Hall ist auch Schauplatz der Sunday Assemblies. »Es gab in Großbritannien immer wieder Versuche, regelmäßige Treffen für Atheisten zu gründen«, erklärt er. Doch in Abgrenzung gegen die Kirchen seien das meist nüchterne Debattierclubs gewesen, die vor allem ältere Herren anzogen.
Deswegen organisiert er die Abende »Sceptics in the Pub«, die ein jüngeres Publikum zum Philosophieren in Kneipen locken sollen. »Zurzeit wachsen wir ziemlich schnell«, sagt auch er. Vor zwei Jahren gab es in London nur ein monatliches Treffen, inzwischen sind es fünf in verschiedenen Pubs und im ganzen Land etwa vierzig. »Dieses wachsende Interesse hilft auch den Leuten von der Sunday Assembly«, sagt Rodrigues, »aber die gehen noch weiter von den Diskussionsrunden weg und ziehen ein richtiges Spektakel ab.«
Tatsächlich hört Sanderson Jones nach dem Willkommenslied Celebration kaum auf zu klatschen. Mit seinem Oberkörper wippt er weiter hin und her, sodass die goldene Krawatte vor seinem lila Hemd umhertanzt. »Hey, Pippa, was ist besser als ein Song zum Auftakt?«, ruft er seiner Mitstreiterin zu, die als Leadsängerin die Band anführt. »Zwei Songs zum Auftakt«, jubelt sie zurück und spielt mit ihrer Gitarre gleich das nächste Stück an: Superstition von Stevie Wonder, ein Funk-Hit mit Warnungen vor Aberglaube, der gleich zeigt: Hier passiert alles mit einem Augenzwinkern.
Ähnlich geht es weiter, als Jones zu seiner ersten Ansprache ansetzt und seine Komiker-Qualitäten zum Einsatz bringt. Das Thema für diese Herbst-Assembly ist Erntedank, und so erzählt er, wie er bei seiner Google-Suche zu diesem heiteren Anlass in einer düsteren Ecke des Internets landete: auf der Homepage eines Death-Metal-Musikfestivals in Deutschland.
»Die Bands waren Furcht einflößend«, raunt Sanderson jetzt im Tonfall eines heiseren Rockstars. Nacheinander stellt er die Gruppen vor und zeigt mit einem Projektor Bilder von langhaarigen Milchgesichtern, die er alle kommentiert. Bei jedem Foto brüllen die Besucher ein bisschen mehr. »Aber jetzt sollten alle Kinder wegschauen«, warnt Sanderson, »denn hier kommt das Härteste zum Deathcore-Erntedank.« An der Wand erscheint das Albumcover einer Gruppe namens We Butter the Bread with Butter. »Ja, liebe Ladys, keine Margarine«, imitiert Jones einen grunzenden deutschen Metaller, »auf euer Brot schmieren wir richtige Butter!« Der Saal johlt.
Für Sid Rodrigues ist diese Heiterkeit der Hauptgrund, warum sich die Sunday Assemblies so schnell verbreiten. Und doch hätten andere den fruchtbaren Boden bereitet, auf den die Idee gefallen sei, meint er. Er führt in den ersten Stock der Conway Hall, in die alte Bibliothek. Dort stehen Lexika mit schweren Einbänden, die einen Duft von Leder verbreiten. Doch Rodrigues holt ein neues Taschenbuch hervor: Das Ende des Glaubens des amerikanischen Philosophen Sam Harris, erschienen 2004. »Nach dem 11. September und Bushs christlicher Propaganda wollte Harris mit Islam und Christentum abrechnen«, erklärt Rodrigues. Bald darauf erschien ein weiteres Buch: Der Gotteswahn, in dem der Oxforder Biologe Richard Dawkins Glaube als Illusion brandmarkt. Die Autoren wurden so bekannt, dass sie eine eigene Bezeichnung erhielten: »Neue Atheisten«.
Neu an ihnen und ihren Mitkämpfern waren drei Dinge: Noch nie hatten Kritiker so naturwissenschaftlich und so aggressiv Gott angegriffen; noch nie standen hinter diesen Attacken so bekannte intellektuelle Stars mit so einer Marketing-Unterstützung von mächtigen Verlagen. Und noch nie waren sie dabei so erfolgreich: Allein Dawkins’ Buch verkaufte sich auf Englisch mehr als zwei Millionen Mal.
Doch das reichte den Bestsellerautoren noch nicht. 2008 unterstützte Dawkins eine Poster-Kampagne auf Londons Bussen: »Es gibt wahrscheinlich keinen Gott«, stand dort in riesigen pinkfarbenen Lettern.
Im Londoner Stadtteil Hackney wohnen die Künstler und die Kreativen. Sanderson Jones teilt sich dort ein Loft mit zwei Freunden. Hier im Norden der Stadt sind die Mieten zwar noch vergleichsweise günstig. Aber bei der Sunday Assembly gibt es bislang nur eine Kollekte, die die Unkosten deckt. Verdienen kann Jones damit nicht – bislang zumindest.
Zu Hause hat er jetzt die exzentrischen Klamotten von der Assembly abgelegt und trägt ein trendiges T-Shirt. So wirkt der 32-Jährige mit seinem Vollbart und den langen Haaren noch mehr wie Jesus im Hipster-Zeitalter. Er führt das Wanderleben eines modernen Großstädters: Für sein Geschichtsstudium ging er nach Bristol, dann für zwei Jahre als Radio-Journalist nach Paris, bevor er sich an einem Internet-Start-up versuchte und später in Londons Werbebranche landete. »Dort konnte ich ein bisschen Geld sparen, um zu werden, was ich immer werden wollte: Stand-up-Comedian.«
Seit fünf Jahren reist er nun durch Kneipen und Kleinbühnen der Welt und hat gelernt, wie man ein Publikum für sich gewinnt. Ins Guinness Buch der Rekordegelangte er mit der längsten Umarmung der Welt: 25 Stunden und 33 Minuten. »Es war eine gute Gelegenheit, mich ausgiebig mit einem alten Freund zu treffen, den ich Jahre nicht gesehen hatte«, scherzt er. Später habe er sich nach einem spektakulären Auftritt gesehnt und kurzerhand einen Saal in Sydneys berühmtem Opernhaus gebucht. »Einen Monat lang bin ich durch Sydney gezogen und habe den Leuten auf der Straße Tickets angeboten«, erzählt er, »am Ende war die Show ausverkauft.«
In sein Comedy-Programm hatte er schon immer auch Witze über Religion genommen. Bei den Recherchen dazu stieß er auf die Bücher der Neuen Atheisten.
Dabei betont Jones selbst, wie sehr er christliche Gottesdienste immer genossen habe: das Singen, die Geschichten und die Gemeinschaft, die dort entstehe. »Aber ich dachte mir: Wenn ich in meinen Schuhen einen Stein finde, schmeiß ich ja auch nicht die Schuhe weg, sondern den Stein«, erklärt er. »Also flog bei unserer Assembly einfach Gott raus.«
Aber reicht es aus, Gott durch Google zu ersetzen und Glauben durch Klamauk?
»Natürlich wollen wir unterhaltsam sein, aber nicht nur«, antwortet Jones. Deswegen lese bei jeder Assembly ein Freiwilliger ein Gedicht vor, es gebe eine Schweigeminute und einen Gastvortrag. So haben bereits prominente Intellektuelle wie der Wirtschaftsprofessor und Labour-Vordenker Richard Layard gesprochen, der vor allem zu Glücksgefühlen forscht.
Andere Redner hingegen waren etwas flacher. »Wir sind noch beim Ausprobieren«, erklärt Jones. Bislang hatte es in London nur eine Assembly pro Monat gegeben, zunächst in einer entweihten Kirche im liberalen Wohnviertel Islington. Doch im Verwaltungsrat der Kirchenvermieter kam nach den vielen Presseberichten Widerstand gegen die Atheisten auf. Seit September finden nun monatlich zwei Assemblies in der Conway Hall statt, dem Versammlungssaal der Ethical Society. Diese Halle ist mit ihren knapp 500 Sitzen größer als die Kirche, aber trotz der alten Holzvertäfelung hat sie nicht die gleiche Aura. Zudem liegt sie im weniger dicht bewohnten Zentrum. Jones ist trotzdem glücklich darüber. »Jetzt haben wir einen festen Sitz. Und letztlich müssen wir unsere Leute fragen, was sie zu uns bringt.«
Phil Cross also, ein munterer 26-jähriger TV-Producer. Er ist an diesem Sonntag zum ersten Mal da, weil ihm eine Freundin erzählt hat, wie viel Spaß die Assemblies machten. Jetzt ist er mit fünf weiteren Freunden und Freundinnen gekommen, eine von ihnen hat gleich ihre Eltern mitgebracht. Die Gruppe ist typisch für die Besucher: zwischen 20 und 50 Jahre alt, die meisten weiß und alle auffallend gut gelaunt. »Gerade in London führen so viele ihr eigenes Leben, und es gibt so wenig Gemeinschaftssinn«, sagt Cross. »Wenn ich das jetzt in einer Kirche suchen würde, käme ich mir vor wie ein Schwindler, weil ich nicht wirklich an Gott glaube. Da komme ich lieber hierher.«
Um Leute wie Cross für sich zu gewinnen, hat die Kirche von England bereits vor Jahren das Projekt »Fresh Expressions« gestartet, »frische Ausdrucksformen«. Diese religiösen Treffen in Cafés oder Kneipen sollten neue Zielgruppen ansprechen. Doch der frühere Priester Hugh Rayment-Pickard bemängelte unlängst in der Church Times, der führenden britischen Kirchenzeitung: Die Veranstaltungen seien oft »das alte Zeug an einem neuen Ort«. Die Sunday Assembly hingegen sei »wunderbar und viel näher an authentischer Religion als die verknöcherten Gottesdienste in vielen Kirchen«.
Etwas skeptischer ist hingegen Nick Spencer. Er ist research director bei der Religionsforschungsanstalt Theos und veröffentlicht kommendes Jahr ein Buch über die Geschichte des Atheismus. »Bei den Assemblies gibt es sicherlich eine Verbrüderung, wie schon bei ähnlichen Projekten zuvor«, sagt er. »Aber die Frage ist, ob die Leute dort Gemeinsamkeiten finden, die sie länger zusammenhalten?«
Darum bemüht sich jedenfalls Pippa Evans, die Mitbegründerin der Assemblies. Von Beruf ist sie ebenfalls Komikerin, doch arbeitete sie lange in einer Hilfsorganisation für Senioren und habe die Kooperation mit der Kirche geschätzt. »An Weihnachten gehe ich zu Haus auch weiter mit meinen Eltern in die Christmette«, erzählt sie. Einen Widerspruch sehe sie darin nicht. Die Sunday Assembly habe ein einfaches Motto: »Lebe besser, hilf oft, und hinterfrage mehr!« »Das soll alle ansprechen«, sagt Evans, »es gibt ja auch Christen, die zu uns kommen, weil es ihnen Spaß macht.«
Für die Erntedank-Assembly haben sie und Jones die Besucher aufgerufen, Essensspenden mitzubringen – wie bei vielen christlichen Gottesdiensten. Und der Aufruf fruchtet: Vor der Band türmen sich im Laufe des Vormittags so viele Konservendosen, Müslischachteln und Nudelpackungen, dass die Helfer eine Sackkarre holen müssen, um die Essenspakete zu zwei Tafeln in der Nachbarschaft zu bringen.
Zudem treffen sich Besucher der Assembly inzwischen auch in privaten Gruppen: einer Literaturgruppe, in der Romane diskutiert werden, einer Philosophiegruppe und Anfang Oktober erstmals zu einem Aktionstag für die Verschönerung des Stadtviertels.
Ende Oktober wollen Sanderson Jones und Pippa Evans auf eine Assembly-Tour durch 40 Städte in mehreren Ländern gehen. Außerdem wollen sie per Crowdfunding einen Spendenaufruf starten. Umgerechnet 600 000 Euro wollen sie zusammenbekommen. Wenn das auch nur annähernd klappt, wollen sie eine Plattform im Internet aufbauen, über die sich Menschen weltweit zu Assemblies zusammenschließen können. Und sie hätten ein Gehalt für sich oder andere Helfer, die die Verwaltung übernähmen.
Noch machen das nur Freiwillige, doch an denen scheint es nicht zu mangeln. Phil Cross etwa ist nach seiner ersten Assembly begeistert. »Man muss schon der richtige Typ dafür sein, offen für Neues und kontaktfreudig«, sagt er. »Aber Pippa und Sanderson sind supersympathisch.« In seinem Büro möchte er gleich Werbung für die nächste Assembly machen. »Und jetzt melde ich mich erst mal für die Verschönerungsaktion an.« Zwar wohne er eine Stunde von hier entfernt, sagt er, »aber irgendwie gehören wir in dieser Stadt ja doch alle zusammen!«
Fotos: Ulrike Leyens